Industrie seit 1663

Die seit 1689 im heutigen Neustadt (Dosse) in Betrieb genommene Spiegelmanufaktur sowie die seit mindestens 1663 im benachbarten Hohenofen betriebene Eisenverhüttung markieren den Start für ein hochentwickeltes, arbeitsteiliges Gewerbe in der Region um Kyritz, Wusterhausen/Dosse und Neustadt (Dosse) in der Ostprignitz. Später folgten die Papierfabrik Hohenofen, die Brauerei Dessow und die Stärkefabrik in Kyritz als bedeutenden Standorte der Industrialisierung – um viele kleinere Betriebe ergänzt.

Entscheidend für diese Ansiedlungen waren die Wasserkraft, die Rohstoffe und die Verkehrswege. Es entstanden Eisenbahnlinien und Chausseen, zuvor war die schiffbare Dosse eine wichtige Verkehrsader. Von der Melioration dieses Gebietes profitierten die Landwirtschaft und damit die Lebensmittelindustrie. So entwickelte sich auch in der dünn besiedelten Prignitz verarbeitendes Gewerbe in bedeutendem Umfang.

Von den Betrieben, den Verkehrswegen und den Versorgungsanlagen blieben authentische Objekte, Baudenkmale und Relikte erhalten. Einige sind bis heute in Betrieb. Anhand von ihnen lässt sich Industriegeschichte erzählen und ein Ausblick geben. Denn die vielfältige Industriekultur der Region lohnt einen zweiten Blick. Viele Standorte können Besucher auf eigene Faust erkunden. Sie bewegen sich dabei durch eine mehr als 300 Jahre alte (Industrie-)Kulturlandschaft, welche außerdem mit ihrer Natur glänzt.

Industriekultur in der Ostprignitz

Mitten in den Weiten der Prignitz, an der Berlin-Hamburger Eisenbahn liegt der ländliche Ballungsraum der Städte Neustadt (Dosse), Wusterhausen und Kyritz. Das reizvoll zwischen vielen Wasserläufen liegende Gebiet im Süden des Landkreises Ostprignitz-Ruppin zählt traditionell zu den sehr dünn besiedelten Regionen in Deutschland. Dennoch gab und gibt es hier – sogar abseits der Städte – verarbeitendes Gewerbe in bedeutendem Umfang. Entscheidend dafür waren Rohstoffe und Verkehrswege. Zurück blieben oft versteckte, dafür umso interessantere Relikte der Produktion, des Verkehrs und der Versorgung: kleinteilige Strukturen der Industriekultur in attraktiver Landschaft.

So zählen das 1903 eröffnete Gaswerk in Neustadt (Dosse) und die Patent-Papierfabrik im benachbarten Hohenofen mit ihrer authentischen Überlieferung zu den national bedeutenden Industriedenkmalen in Deutschland. Beide Werke blieben mit ihren technischen Einrichtungen vollständig erhalten. Ein Gaswerk wie in Neustadt war einst sehr typisch für die Städte des Kontinents; heute ist es das letzte seiner Art in Mitteleuropa. Zur Papierfabrik gehört eine nahezu vollständig erhaltene Produktionslinie für Papier aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mit einer 42 Meter langen Papiermaschine. Und sogar eine Arbeitersiedlung gibt es in diesem Industriedorf.

Das Wegemuseum in Wusterhausen/Dosse dokumentiert die Verbindungen in der Region, vor allem die des Straßenverkehrs. Die Industrialisierung selbst ist ein wenig an Wusterhausen vorbeigegangen. Denn die Berlin-Hamburger-Eisenbahn verläuft über Neustadt, die Chaussee von Neuruppin endet in Bückwitz. Auch deshalb siedelte sich in Wusterhausen nur langsam verarbeitendes Gewerbe an. Fast 100 in der Stadt ansässige Schumacher produzierten zwar vor allem für den Berliner Markt, konnten die Investitionen in neue Maschinen und große Betriebe aber ebenso wenig stemmen wie die einst ebenfalls für die örtliche Wirtschaft wichtigen Zigarrenmacher. Dagegen gab es in Dessow, einem heute zu Wusterhausen gehörenden Dorf mit knapp 300 Einwohnern, einst eine bedeutende Brauerei – und heute ein Museum mit Dampfmaschine.

Das Agrarflug-Museum Kyritz auf dem Flugplatz Heinrichsfelde dokumentiert ein herausragendes Beispiel der industrialisierten Landwirtschaft: Von hier beflogen die Agrarflieger seit 1957 die nördlichen Zweidrittel der DDR. Die Stadt Kyritz selbst ist traditionell ein wichtiger Standort für die Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten: Dies wird sichtbar durch die Molkerei, eine Brennerei, ein Kühlhaus und ein Getreidesilo ebenso wie die 1873 in Betrieb genommene und für die Region wichtige Stärkefabrik.

Der Ursprung der Industriekultur hier am Rande der Prignitz lag am Wasser. Der „hohe Ofen“ in Hohenofen, in dem seit mindestens 1663 Raseneisenstein verhüttet wurde, benötigte die Wasserkraft für seine Hochofen-Gebläse ebenso wie die von 1838 bis 1990 dort betriebene Papierfabrik. Letztere nutzte das Wasser außerdem für die Produktion: In ausgedehnten Filterteichen und einem Klärturm wurde es gereinigt. Auch die benachbarten Poliermühlen brauchten die Wasserkraft, um das Flachglas der Spiegelmanufaktur in Neustadt zu verarbeiten. Statt der 1689 im Ortsteil Spiegelberg gegründeten Spiegelmanufaktur arbeitete dort später eine große Getreidemühle. Und Mühlen waren ebenso in Wusterhausen an der Dosse und in Kyritz „an der Knatter“ wichtig. Der seit mindestens 1868 überlieferte Spitzname geht auf dort „knatternde Mühlen“ zurück; tatsächlich wird die Stadt von der Jäglitz durchflossen.

Die Dosse diente auch als Verkehrsweg: Bis zur Papierfabrik Hohenofen war sie noch lange Zeit schiffbar. Einst fuhren die Kähne sogar bis Wusterhausen. Noch bis in die 1950er Jahre wurde Holz zu den Sägewerken von Wusterhausen geflößt. Mit dem Höhepunkt des Industriezeitalters entstanden in der Region Chausseen und Eisenbahnlinien, wie die Berlin-Hamburger Eisenbahn, die Brandenburgische Städtebahn, die Voll- und die Kleinbahnen in der Prignitz. Bahnhofsgebäude, Lokschuppen und weithin sichtbare Wassertürme gehören zum sichtbaren Erbe. Vom Straßenverkehr blieben historische Pflaster, Meilensteine, Chausseehäuser und Tankstellen erhalten. Im DDR-Zweirad-Museum Wusterhausen/Dosse sind dazu passende Fahrzeuge zu sehen.

Deutlich sichtbar ist in der Region zudem eine alte Kulturlandschaft. 1749 begann die Melioration im Dossebruch und im unteren Rhinluch. Die Flüsse Dosse, Jäglitz und Rhin, die in einem ausgedehnten Gebiet Havel und Elbe entgegen streben, wurden teilweise begradigt oder verlegt und zahlreiche Gräben für die Aufnahme von Wasser ausgebaut. Unter dem preußischen König Friedrich dem Großen wurden in dem Gebiet etwa 20.000 Kolonisten angesiedelt. Die Bedingungen im meliorierten Luch waren günstig für die Rinderwirtschaft und den Anbau von Roggen, Kartoffeln, Gemüse und auch Hanf.

Von der Melioration des Gebietes profitierten die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie, wie Getreidemühlen, Molkereien, Brennereien und die Brauerei Dessow. Zu DDR-Zeiten bekam die industrialisierte Landwirtschaft hier unter anderem mit den Agrarfliegern noch einmal einen Schub, aber auch mit dem 1979 für die Bewässerung und den Hochwasserschutz von Wusterhausen und Neustadt in Betrieb genommen Dossespeicher. Diese östlich von Kyritz als Teil einer Seenkette liegende Flachland-Talsperre dient auch der Freizeit. Sie staut das Wasser der Klempnitz und – über einen Kanal abgezweigt – einen erheblichen Teil der aus Wittstock kommenden Dosse.

Text: Sven Bardua