Die Kartoffel als Rohstoff
Mit seinen großen Anlagen ist die Stärkefabrik an der Pritzwalker Straße im Stadtbild von Kyritz seit fast 150 Jahren präsent. Die hier am 3. April 1991 von der Emslandstärke GmbH übernommene Kyritzer Stärke GmbH (seit 1997 ein Betriebsteil Emsland Group in Emlichheim) veredelt wie eh und je Kartoffeln zu hochwertigen Produkten, die längst zu einem großen Teil sogar exportiert werden. Das Werk ist auch ein Dokument für den hohen Stellenwert der Agrarwirtschaft in der Region.
Stärke wird nicht nur aus Kartoffeln hergestellt, sondern auch aus Mais und Weizen. Sie ist ein wichtiger Rohstoff für die Lebensmittel- und die Chemieindustrie. So wird mit ihr Klebstoff hergestellt, mit der unter anderem Wellpappe verbunden wird. Sie dient auch als fermentierbares Substrat zur Produktion von Plattformchemikalien, Ethanol und Waschmitteln. Zudem ist Kartoffelstärke eine klassische Zutat beim Kochen und Backen, Bestandteil unter anderem in Süßigkeiten, Kartoffelchips, Pommes frites und Kuchen.
Die Zellen der Pflanzenknolle enthalten das begehrte Stärkekorn. Um diese Stärke zu extrahieren, werden die Kartoffeln zerrieben, damit die Stärkekörner aus den Zellen austreten können. Danach wird die Stärke ausgewaschen und zu Pulver getrocknet. Als Nebenprodukt fällt nach dem Abpressen von Wasser und gründlichem Trocknen die Kartoffelpülpe an. Sie wird vor allem als Futtermittel für Milchkühe und Mastrinder verwendet.
Angesichts dieses Prozesses haben Stärkefabriken einen hohen Wasserbedarf. Noch 1979 verbrauchte die Stärkefabrik Kyritz etwa zehnmal so viel Wasser, wie sie Kartoffeln verarbeitete. Damals waren in modernen westeuropäischen Betrieben etwa drei bis vier Kubikmeter je Tonne Kartoffeln üblich. Fast 90 Jahre bezog die Fabrik Kyritz ihr Betriebswasser aus der Jäglitz und profitierte deshalb auch von dem 1979 bei Stolpe als Talsperre in Betrieb genommenen Dossespeicher. Heute arbeiten Stärkefabriken dagegen mit weitgehend geschlossenen Systemen.
Seit 1936 wurde die mit Kartoffeln beladenen Bahnwaggons in Kyritz auch mithilfe von Wasserspritzen entladen. Das war damals eine große Arbeitserleichterung, denn vorher war dies noch per Hand geschehen. Diese Anlage war bis 1990 in Funktion. Doch dann wurde das umgebaute Gleisnetz im Werk und damit die Waggonentladung trotz eines neugebauten, von Süden kommenden Anschlussgleises nicht wieder in Betrieb genommen. Das charakteristische Dreischienengleis auf der Wilsnacker Straße durch die Stadt zum Bahnhof war 1985 für die Normalspur stillgelegt worden; die schmalspurige Prignitzer Kleinbahn („Pollo“) hatte schon 1969 ihren Gesamtbetrieb eingestellt. Ein normalspuriges Anschlussgleis gab es seit der Eröffnung des Bahnhofs 1887; der Schmalspuranschluss wurde erst 1908 umgesetzt.
Ein großes Thema war lange Zeit auch das Abwasser der Stärkefabrik: Obwohl es in Klärbecken der Fabrik mechanisch gereinigt und anschließend auf benachbarten Feldern verrieselt wurde, kam es schon 1911 zu einem Fischsterben in der Jäglitz, der Havel und sogar in der Elbe. Ursache dafür waren Bestandteile des Abwassers wie Eiweiß und Zucker. Bei Havariefällen gab es noch bis etwa 1975 ein Fischsterben. Zudem war die Geruchsbelästigung durch die einst von der Fabrik betriebenen Rieselfelder in der warmen Jahreszeit erheblich.
Fortschrittlich war das Werk bei der Energiewirtschaft. Die erste Dampfmaschine von 1873 hatte 60 PS, sie wurde später durch eine 80-PS-Maschine ergänzt. Sie trieben eine Transmissionsanlage an, welche die Arbeitsmaschinen bewegte. Dazu gehörte seit 1884 auch ein Generator, mit dem Strom für die neu im Logengarten des Fabrikbesitzers aufgestellten Bogenlampen und die Beleuchtung in der Fabrik erzeugt wurde – damals eine Sensation. Denn die Stadt Kyritz bekam erst 1897 ihr eigenes Elektrizitätswerk. 1899 bestellte die Fabrik eine neue elektrische Anlage bei Siemens & Halske und stellte 1902 eine 180-PS-Dampfmaschine auf. 1933 übernahm eine Dampfturbinensatz mit 1.300 PS die Stromerzeugung für das Werk – die Transmission wurde nun von einem Elektromotor angetrieben.
Die Kartoffel gedeiht auf den eher leichten Lehmböden der Mark Brandenburg gut und trug seit dem 19. Jahrhundert erheblich zur Ernährung bei. Sie geht auf den preußischen König Friedrich den Großen zurück, der im Jahr 1746 anlässlich einer Hungersnot in Pommern den ersten seiner Kartoffelbefehle ausgegeben hatte. Damit warb er eindringlich für den Kartoffelanbau, der sich aber erst um 1800 durchsetzte. Erst Missernten beim Getreide beschleunigten den Wandel. Seit etwa 1850 dienten Kartoffeln zudem auch als Rohstoff für Brennereien ebenso wie als Viehfutter.
Seit etwa 1860 entstanden die ersten Kartoffelstärkefabriken. Die ersten der Region waren Werke in Brandenburg (gegründet etwa 1866), in Neuruppin und Plau am See (gegründet 1872). Der Kyritzer Kaufmann Carl Conrad nahm dann an der Chaussee Berlin–Hamburg auf einem großen freien Feld nördlich seiner Stadt und mit Wasser der Jäglitz versorgt 1873 eine weitere Fabrik in Betrieb. Schon seit 1875 veredelte er einen Teil der Stärke zu Glukosesirup für die Süßwarenherstellung, gliederte später eine Abteilung für lösliche Stärke an, um Kunstleim und Dextrin herzustellen. Das Geschäft lief gut, 1889 zog er in sein heute noch dem alten Haupttor stehendes Wohnhaus ein.
Doch dann fehlte das Geld für Investitionen, andererseits lieferten die Kartoffelbauern nicht zuverlässig. 1899 wandelte er das Unternehmen deshalb in eine GmbH um und beteiligte daran maßgeblich 26 Gutsherren sowie Großbauern. So bekam die Gesellschaft mehr Kapital und die Kartoffellandwirte der Region waren am Erfolg beteiligt. Seit 1901 modernisierte und erweiterte der erst 24 Jahre alten Direktor Gustav Adolf Bergmann (1877–1929) die Fabrik erheblich. Aus dem Familienbetrieb, der täglich 125 Tonnen Kartoffeln verarbeitete, war nun ein Werk für die Verarbeitung von 900 Tonnen Kartoffeln täglich geworden. In der Saison 1910/11 verarbeitete die Kyritzer Stärkefabrik etwa 33.000 Tonnen Kartoffeln, etwa 2,6 Prozent der damals in Deutschland zu Stärke verarbeiteten Menge.
In den 1930er Jahren arbeiteten ständig 200 und während der Kampagne sogar 350 Arbeiter und Angestellte in der Fabrik. 1935 entstand das Verwaltungsgebäude in seiner heutigen Form. In den 1970er Jahren wurde die Verarbeitungskapazität von täglich 1.050 auf 1.500 Tonnen erhöht. 1990 hatte die Fabrik schließlich 457 Beschäftigte. Nach der Übernahme durch Emsland Stärke wurde einige Produktionsteile eingestellt, in der Kampagne 1996/97 aber erstmals fast 300.000 Tonnen Kartoffeln verarbeitet.
Doch es gab auch Rückschläge, von denen die Unglücke besonders prägnant sind. So brach am 17. Oktober 1909 in der Sirupfabrik und Trocknerei ein Großfeuer aus und richtete erhebliche Schäden an. Bei einer Mehlstaubexplosion mit Brand am 27. November 1958 wurden zwei Menschen getötet und 36 schwer verletzt. Ein defektes Ventil führte am 22. Februar 1968 zu einer Explosion in der Sirupfabrik. Dabei wurden Trocknerei und Sichterei so zerstört, dass ihr Wiederaufbau zwei Jahre dauerte.
Text: Sven Bardua